Einblicke – in die Sammlung Wemhöner

Sammeln ist Sehen – Roland Nachtigäller

Viel ist schon über das Sammeln gesagt und geschrieben worden: Gerne führt man dieses Verhalten auf die ursprünglichen Überlebenstechniken des Menschen zurück, bringt es mit dem staunenden Blick des Kindes auf die Welt in Zusammenhang oder deutet es als Sublimierung eines Dominanztriebs im Besitzen-Wollen. Vom Pragmatismus des Sammlers und Jägers führt der Weg über die intuitive Liebe zu Dingen mit persönlicher Geschichte hin zur Flucht aus sozialen Gefügen und zum zwanghaften Horten ohne Kontrolle.

Und doch ist das Sammeln erst einmal vor allem eine unverzichtbare menschliche Eigenschaft, um sich die Welt anzueignen. Denn wir sammeln in unserem Leben nicht nur Gegenstände, sondern vor allem Erfahrungen, Eindrücke, Urteile, innere Bilder – Facetten einer Austauschbewegung zwischen Mensch und Umwelt, die identitätsstiftend ist. Genau das beschreibt der Unternehmer und Sammler Heiner Wemhöner, wenn er sagt: „Die Kunst erweitert meinen Horizont, sie hat mich toleranter und besonnener werden lassen." (Interview mit Annika Karpowski für www.artnet.de, 7.11.2011)

Insofern ist der private Kunstsammler erst einmal niemandem Rechenschaft schuldig. Er frönt einer persönlichen Leidenschaft, schaut auf die Kunst mit den Augen seiner individuellen Erkenntnisse und Interpretationen, trifft Künstler und deren Werke, kauft mit Bedacht oder spontan, kalkulierend oder unvernünftig und fügt das Erworbene der eigenen Lebenswelt hinzu. Und doch – die Kunst (und mit ihr noch einige andere Sammlungsgebiete) hat ihre eigenen Gesetze. In der Regel überdauert sie ihren Besitzer, sie ist auf Reisen, von der einen in die andere Hand und wandert zwischen Entdeckung, Wertschätzung und Vergessen durch die Zeit. So entsteht mit dem Sammeln auch Geschichte, eine individuelle, die sich an Begegnungen, Erlebnissen und Entscheidungen festmacht, und eine überindividuelle, die von kulturellen Leistungen und gesellschaftlichen Entwicklungen, von Vorstellungen und Haltungen, von Ökonomie und Zukunft erzählt.

Aber die private Sammlung ist kein Museum. Sie ist nicht der Idee verpflichtet, die Essenz einer Zeit in ihren Kulturgütern herauszudestillieren, sie hat keine Neutralität gegenüber den persönlichen Beziehungen zu wahren, und sie muss ihren Fundus auch nicht als kanonisiertes Erbe für die Zukunft betrachten. Eine private Sammlung folgt in erster Linie einer ebenso privaten Passion. Sie ist eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Sehen: Was weiß ich über das, was ich sehe, was sehe ich von dem, was ich weiß, und was sehe ich über das Sichtbare hinaus.
Und die private Sammlung ist erst recht nicht der Kunstmarkt. Sie muss nicht den neuesten Trend verkörpern, sie stellt höchst erfolgreiche Künstler neben nahezu unbekannte, sie bringt am Markt Unvereinbares spielend zusammen. Ihr sollte es nicht um Image und Ambiente, nicht um Wertsteigerung und Wertschöpfung gehen, sondern darum, eine andere Art Gleichgewicht herzustellen zwischen dem Ich und der Welt, eine subjektive Balance zwischen den Dingen.

Deswegen auch gehören zu einer privaten Sammlung der Irrtum und das Abwegige, das Unverständliche und schwer Nachvollziehbare fest dazu. Sie mäandert durch die Zeit, die Lebenszeit ihres Sammlers, sie spiegelt einen Teil eines persönlichen Wegs. Aber worin liegt dann der Reiz einer solchen Ausstellung, gar deren Notwendigkeit? Es ist die Begegnung mit der Obsession, die Lust, einem Menschen, der persönlich identifizierbar ist, auf dem Weg seiner Leidenschaften ein Stück weit zu folgen und – hier sind wir wieder beim Ausgangspunkt dieser Betrachtung – Erfahrungen mit den Augen zu machen. Das Sehen im konkreten und im übertragenen Sinne ist etwas, das dem Menschen ein Stück weit seine Aneignung der Welt ermöglicht.

Wenn wir das Betrachten von Kunst, die Auseinandersetzung mit ihr und das bewusste Hinschauen nicht als Herrschaftsakt eines autoritären Interpretationssystems verstehen, sondern als Chance individueller Begegnungen, dann kann das Kunstwerk sich selbst auch schutzlos zur Disposition stellen – wir können es lieben, kaufen, sammeln oder ablehnen, übersehen, vergessen. Kunst ist das Form gewordene Sehen der Welt – im Museum als Teil einer großen anthropologischen Erzählung, in der privaten Sammlung als ein faszinierendes Universum überbordender Lust am Unbekannten.
Ein Bild im Depot aber ist ein Bild ohne Gegenüber, denn Kunst will gesehen werden.


Künstler

Marina Abramovic, Darren Almond, Roger Ballen, Gauillaume Bruère, Tony Cragg, Julian Charrière, Asta Gröting, Gonkar Gyatso, Carlos Irijalba, Alfredo Jaar, Isaac Julien, Joseph Kosuth, Yue Minjun, Andreas Mühe, Michael Najjar, Helmut Newton, Hans op de Beeck, Bettina Pousttchi, Alexandra Ranner, Nicolai Rapp, Erik Schmidt, Alexandre Singh, Andrea Stappert, Marianna Uutinen, Erik van Lieshout, Erwin Wurm, Chen Xiaoyun, Yin Xiuzhen

  • Herausgeber: Philipp Bollmann
  • AutorIn: Roland Nachtigäller
  • Gestaltung: ExtraGestaltung, Margarethe Hausstätter
  • Format: 22,50 x 30,00 cm
  • Veröffentlichungsdatum: 21.03.2014
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